Die Lust am Reisen und die Strecken, die Anna Jermolaewa kontinuierlich auf der Weltkugel zurücklegt, sind selbst in der hypermobilen und beschleunigten Gegenwart, in der wir leben, selten anzutreffen. Die Biografie der Globetrotterin, deren Reisetätigkeit mit der Emigration aus St. Petersburg einige Monate vor dem Ende der Sowjetunion begann, ihre ausgedehnten Auslandsaufenthalte und die Wahl ihres Berufes, der mit den typischen Kurzbesuchen von Ausstellungsorten verbunden ist, zeugen von einem nachdrücklichen Interesse an Ländern, Städten und Menschen. Eine Mischung aus bereits vor dem Aufbruch existierendem Konzept und Reiseimpressionen, die Jermolaewa ästhetisch stimulieren und die ihr den Impuls für neue Arbeiten geben, bestimmen dann auch eine Herangehensweise, die die Authentizität von Gesehenem und Erlebtem ohne Nachbearbeitung und verfremdende Effekte festhält. Jermolaewas Werk, das Motive sowohl gewissermaßen vor der eigenen Haustüre in Österreich, Russland und den USA wie auch in Polen, Sibirien, Mexiko und Kuba aufnimmt, überrascht dabei stets mit neuen Bild(er)findungen. Man weiß auch nie, wohin es die Künstlerin als nächstes verschlagen wird. Und obwohl dieses Oeuvre das Gegenteil von ortlos ist, lässt es sich schwer verorten.
Es gibt einige Arbeiten von Anna Jermolaewa wie Volga etc. (2008), in denen Märkte eine Hauptrolle spielen. Vielleicht liebt die Künstlerin diese Umschlagplätze, auf denen Waren aus allen Herren Länder versammelt sind, weil so viele verschiedene Kulturen aufeinandertreffen. Die Bilder mit armenischen Bauern, die am Markttag mit voll beladenen Autos nach Jerewan kommen, um dort ihre Güter anzupreisen, bestechen durch eine Kombination aus prägnanter Alltagssituation, Einfachheit der aufzeichnenden Medien und Echtheit der Aufnahme. Wer hat die Schönheit eines solchen Sujets schon einmal wahrgenommen? Anna Jermolaewa veranschaulicht in ihren Fotografien, Filmen und Videos häufig wie geografische Gegebenheiten gesellschaftliche Verhältnisse determinieren und Menschen in ihrem Handeln beeinflussen. In diesen Bildern gelingt es, eine abstrakte Begrifflichkeit wie Identitätskonstruktion durch das Erfassen eines eindringlichen Momentes mit Leben zu erfüllen und einen Elan vital zu verströmen, der gänzlich auf billigen Exotismus verzichtet – auch wenn die Aufnahmen in geografisch weit entfernten Regionen gemacht wurden. Jermolaewas Kunst bezeugt eine existentielle Möglichkeit, die in ihrer Schlichtheit und Menschlichkeit Perspektiven eines richtigen Lebens andeutet.
Angela Stief