Shooting thematisiert den doppelten Wortsinn des Verbes „to shoot“, das gleichermaßen das Abschießen einer Waffe und das Filmen mit einer Kamera bezeichnet. In beiden Fällen wird etwas auf jemanden gerichtet. Ausgerüstet mit Schutzbrille und Kopfhörer ist es hier die Künstlerin selbst, die mit einer automatischen Waffe frontal auf den Betrachter zielt. Auf dem zweiten Bildschirm sehen wir eine Videokamera auf einem Stativ. Auf wen oder was fokussiert sie? In ihrer vermeintlich beobachtenden Position doppelt die Kamera die Funktion des Rezipienten und erzeugt damit ein unheimliches Dreiecksverhältnis. Der erste Schuss fällt und bewirkt nach einiger Verzögerung eine Störung des Bildes. Ein zweiter Schuss entscheidet das vermeintliche Duell vordergründig zugunsten der Künstlerin, die Kamera produziert nur noch weißes Rauschen. Tatsächlich ist es jedoch die Videokamera, die im Bild bleibt, und die Künstlerin ist daraus verschwunden. Mit Shooting verweist Jermolaewa auf die abgründigen Potenziale des „geschossenen“ Videobildes, die im Dienste von überwachung und Machtmissbrauch aus einer scheinbar harmlosen Kamera zuweilen eine gefährliche Waffe werden lassen.
Alexandra Hennig***
Wenn man an einem Ort kommt, an dem eine Kamera läuft, so der französische Philosoph Jean Baudrillard, dann sollte man sich in Acht nehmen, ob nicht demnächst eine Gewalttat passiert. Gewalt ist für die Medien Futter. Die heutigen Medien dokumentieren nicht nur Gewalt, sondern provozieren sie auch. über den Zusammenhang zwischen Schusswaffe und Kamera wurde schon häufig geschrieben. In der zweiteiligen Videoinstallation schießt Anna Jermolaewa auf eine laufende Kamera, bis die Kamera nicht mehr „schießen“ kann. Ein symbolischer Akt des Widerstands.
Justin Hoffmann, 2010.***
In the two-channel video piece, “Shooting” (2001), Jermolaewa ‘destroys’ the apparatus, the apparatus of video, and penetrates the observer’s field of vision in a rather violent manner. We are offered an allegory of the construction and destruction of representation in the age of ‘democratized’ media culture, wherein anyone with a video camera can become a putative moviemaker. The two video monitors face each other, replicating the original scene of the video shoot. In one monitor, a woman, who appears to have black hair (or is it a wig?), wearing large protective eyewear, holds an automatic pistol. It appears that she is aiming, pointing, the gun directly at us, the viewers. It is a face-off between the imminent violence of a gunshot and the imminent ‘reception’ by the viewer of this action. As a possible target, I am about to be shot, figuratively speaking. I am arrested, physically and metaphorically, by having a gun pointed at me. The woman is standing, holding the automatic pistol, in what appears to be an underground space- perhaps a shooting range, perhaps a more pernicious context. On the other video monitor, the image of a video camera mounted on a tripod, in front of a brick wall. We assume this camera occupies the same space as the shooter. Perhaps, the video camera is the actual target, and I, as viewer, have become the imaginary intermediary in this depicted scene? On the other monitor, the woman takes a breath (is this Anna, the artist herself?), aims the pistol at me/us/video camera, and fires off one shot. Target practice? After a few moments, there is a subtle disturbance in the quality of the video; it appears to be deteriorating in quality. She aims again, appears ready to shoot, and then briefly stops, pulls back, takes a longer, deeper, breath, and then shoots off a second shot. And then, abruptly, there is only static: the materiality of the tape has been undermined. Simultaneously, on the companion video monitor, we observe what might be described as the ‘victim’ of the shooting, the objective evidence: it is the video camera, helpless, almost pathetic, which has been partially destroyed, or ‘executed.’ Perhaps, in some indirect way, this is an ironic revision of Chris Burden’s famous 1971 “Shoot,” although I believe there is something else going on here. Jermolaewa desires to implicate us, as viewers, suggesting that we are all complicit in this endlessly repeated act of actual/symbolic destruction and reconstruction of the video apparatus- a gesture which reveals the underlying ‘fictive’ status of video’s claims of veracity, objectivity, truthtelling.
Joshua Decter,Auf Annas Spiel einsteigen, 2002, in: Anna Jermolaewa Big Sister / The Five Year Plan, Ausst.Kat., Herausg. v. Gerald Matt f.d. Ursula Blickle Stiftung, Wien, 2002.
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In der 2001 entstandenen Zweikanal-Videoarbeit Shooting „zerstört“ Jermolaewa den (Video-)Apparat und dringt auf ziemlich gewalttätige Weise in das Blickfeld des Betrachters ein. Wir bekommen eine Allegorie des Aufbaus und der Zerstörung der Darstellung im Zeitalter der „demokratisierten“ Medienkultur vorgeführt, in dem vermeintlich jeder, der im Besitz einer Videokamera ist, zu einem Filmemacher werden kann. Die beiden einander zugewandten Videobildschirme replizieren die ursprüngliche Szene des Shootings. Auf einem Schirm sieht man Anna Jermolaewa, die große Schutzbrillen trägt und eine automatische Waffe in der Hand hat. Sie scheint die Waffe direkt auf uns, die Betrachter, gerichtet zu haben, auf uns zu zielen. Es handelt sich um eine Kraftprobe zwischen der drohenden Gewalt des Schusses und dessen drohender „Rezeption“ durch den Betrachter dieses Vorgangs. Als mögliches Ziel bin ich, im übertragenen Sinn, im Begriff, erwischt zu werden. Die auf mich gerichtete Waffe gebietet mir körperlich wie bildlich Einhalt. Die Frau mit der automatischen Waffe steht in einem Raum unter der Erde – vielleicht handelt es sich um einen Schießstand, vielleicht aber auch um einen schrecklicheren Ort.Auf dem anderen Bildschirm sieht man eine Videokamera auf einem Stativ vor einer Ziegelwand. Man nimmt an, dass die Kamera sich im selben Raum befindet wie die Frau mit der Waffe. Ist vielleicht die Videokamera das eigentliche Ziel, und bin ich, der Betrachter, zum imaginären Vermittler in der dargestellten Szene geworden? Auf dem anderen Bildschirm atmet Anna Jermolaewa, sie zielt mit der Waffe auf mich/uns/die Videokamera und gibt einen Schuss ab. Haben wir es mit einer Schießübung zu tun? Nach ein paar Augenblicken wird die Qualität des Videos geringfügig schlechter. Die Künstlerin zielt wieder, scheint feuerbereit zu sein, hält dann aber inne, zieht sich zurück, macht einen längeren, tieferen Atemzug und gibt einen zweiten Schuss ab. Auf einmal ist das Bild gestört: Die Materialität des Bandes hat Schaden genommen. Gleichzeitig zeigt uns der zweite Bildschirm sozusagen das „Opfer“ der Schüsse, das objektive Beweismaterial: die hilflose, fast jämmerlich wirkende Videokamera, die teilweise zerstört oder „hingerichtet“ worden ist. Man könnte diese Arbeit als polemische Neufassung von Chris Burdens Shoot aus dem Jahr 1971 sehen, auch wenn ich glaube, dass es eigentlich um etwas anderes geht. Jermolaewa will uns als Betrachter in ihr Spiel verwickeln und darauf hinweisen, dass wir alle an diesem endlosen, sich immer wiederholenden Akt der tatsächlichen/symbolischen Zerstörung und Rekonstruktion des Videoapparats beteiligt sind – eine Geste, die den tieferen „fiktiven“ Stellenwert des dem Medium Video eigenen Anspruchs auf Glaubwürdigkeit, Objektivität und Wahrhaftigkeit zeigt.
Joshua Decter,Auf Annas Spiel einsteigen, 2002, in: Anna Jermolaewa Big Sister / The Five Year Plan, Ausst.Kat., Herausg. v. Gerald Matt f.d. Ursula Blickle Stiftung, Wien, 2002.